Drei Stunden bis Sonnenaufgang

Anthologie GrenzenlosLeseprobe aus der Anthologie „Grenzenlos“

Die Geschichte „Drei Stunden bis Sonnenaufgang“ entstand im Rahmen eines Schreibwettbewerbs im Deutschen Schriftstellerforum. Ziel war es, innerhalb von zwei Stunden eine Geschichte zu einem vorgegebenen Thema zu schreiben. Zu dieser Zeit habe ich mich auch wegen der geplanten Anthologie intensiv mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigt. An diesem Tag war ich auf dem „Fest der Begegnungen“ in Nürnberg und habe mit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft gesprochen. An diesem Tag hat Deutschland wieder Grenzkontrollen eingeführt. Und so ist es wohl kein Wunder, dass es in meinem Wettbewerbsbeitrag ebenfalls um Flüchtlinge geht. Herausgekommen ist ein Beitrag, der versucht, die Flüchtlingskrise und die Zerissenheit Syriens in einer kurzen Geschichte zu erklären. Ob das zumindest ansatzweise geglückt ist, bleibt jedem selbst überlassen. Der Beitrag ist eine Mischung aus dem Originaltext und der Version aus „Grenzenlos“. Denn ich denke, beide Versionen haben ihre Berechtigung. 

Drei Stunden bis Sonnenaufgang

Wumms.
Ahmed schreckt hoch, knipst die Nachttischlampe an. Sein Herz rast. Was war das? Eine Bombe? Eine Granate? Nein. Nur die Tür ist zugeschlagen. Mit zitternden Händen aktiviert er sein Smartphone. Es ist drei Uhr fünf morgens. Er hat geschlafen. Das ist immerhin schon etwas. Allerdings nicht länger als 30 Minuten. Ahmed ist müde. Todmüde. Er atmet tief durch, legt sich dann wieder hin, zieht die Decke hoch bis zum Kinn. Das Licht lässt er brennen. Er wagt nicht, es wieder auszuschalten. Er braucht Zeit, um sich zu beruhigen. An Schlaf ist erst einmal nicht zu denken.
Wie oft hat er beklagt, dass sie die Türen nicht leise zumachen können.
„Das ist eine Brandschutztür“, sagt der Wachmann. „Die schließt automatisch. Das ist Vorschrift.“
„Es ist eine alte Tür“, meint die Frau vom Hilfskreis und zuckt hilflos die Achseln. „Leider kann ich nichts für Sie tun. Die Toiletten sind nun einmal auf der anderen Seite der Brandschutztür. So ist das eben hier in der Kaserne.“
„Natürlich können wir die Tür leise schließen, Ahmed. Wir werden in Zukunft darauf achten“, sagen die anderen, die mit ihm auf dem Gang wohnen. Doch natürlich tun sie es nicht. Und keiner möchte mit ihm das Zimmer tauschen.
Wumms.
Ahmed greift wieder nach seinem Handy. Drei Uhr neun. Der Toilettengänger ist wieder auf dem Weg zu seinem Schlafzimmer. Ahmed hört seine schweren Schritte durch den Gang hallen, lauscht darauf, wie sich irgendwo eine Tür öffnet und kurz darauf ins Schloss fällt. Ahmed atmet tief durch, schließt die Augen, löscht das Licht. Doch Schlaf will sich nicht einstellen. Irgendwann gibt er auf,  setzt sich auf, schaltet das Licht wieder an, aktiviert sein Smartphone. Drei Uhr dreißig. Er öffnet Facebook, blickt auf Fotos von seiner Schwester Rula. Sie lächelt in die Kamera. Im Hintergrund sind die Hochhäuser von London zu sehen. Sie hat schon vor Jahren einen Engländer geheiratet. Ahmed scrollt weiter. Sein Bruder Mohammed hat auch Bilder gepostet. Zusammen mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn ist er vor zwei Jahren nach Schweden gegangen. Jetzt ist es dort sehr kalt und dunkel, manchmal haben sie nur drei Stunden Sonnenlicht am Tag.
„Deutschland“, hat Mohammed gesagt. „Du Glückspilz.“
„Ich Glückspilz“, denkt Ahmed, während er hungrig auf die Bilder seiner lächelnden Geschwister blickt. Hungrig nach einem friedlichen, glücklichen Leben, einem wie sie es haben. Doch Ahmed hat alles verloren. Seine Freundin Maryam war gerade beim Einkaufen, als die Mörsergranate einschlug und ihr Leben beendete. Maryam war die Frau seines Lebens gewesen. Er hätte sie geheiratet, ihr einen Antrag gemacht. Was machte es schon, dass sie Christin war, dass die Nachbarn geredet hätten, dass ihre Familie nicht einverstanden gewesen wäre?
Sie hätten einen Weg gefunden.
Seine Beziehung zu Maryam hatte er geheimgehalten. Nicht einmal seine Geschwister hatten davon gewusst. Er hätte es ihnen gesagt. Natürlich. Er hätte sie ja auch zur Hochzeit eingeladen. Aber er hat es nicht mehr geschafft. Zwar hat er es versucht. Danach. „Es sind Mörsergranaten im Christenviertel niedergegangen“, hat er geschrieben, bereit, ihnen sein Herz auszuschütten.
„Was gehen uns die Mörsergranaten im Christenviertel an?“ hat seine Schwester aus England geantwortet. „Wenn in Aleppo die Fassbomben des Regimes auf unsere Brüder und Schwestern regnen?“
„Die Christen sind alle Verräter“, hat sein Bruder gepostet. „Die arbeiten alle mit dem Diktator zusammen. Geschieht ihnen Recht.“
Ahmed hat geschwiegen und stattdessen überlegt, zu kämpfen. Um Maryams Tod zu rächen. Um irgend etwas zu tun. Doch gegen wen sollte er kämpfen? Oder besser – für wen? Für die Jabhat an-Nusra, den al-Qaida-Arm Syriens? Für den IS oder für die Islamische Front oder für eine der anderen Gruppierung von Rebellen, denen er durch seine Religion nahestehen sollte? Doch es sind Rebellen, die die todbringenden Mörsergranaten werfen und Massaker an Zivilisten begehen. Auch an Muslimen. Wie in Adra im Dezember 2013. Sollte er also besser mit dem Regime gegen IS und al-Qaida kämpfen? Mit dem verhassten Diktator, der zwar keine Mörsergranaten wirft, aber dafür Fassbomben regnen lässt? Nein, Ahmed wollte kein Mörder sein, nicht das Blut der Unschuldigen an seinen Fingern kleben sehen. Deswegen hat er sich für die Flucht entschieden.
Wumms
Ahmed schreckt erneut hoch, seine Hände fangen wieder an, zu zittern. Denk nicht an Maryam, ermahnt er sich. Es funktioniert. Doch dafür strömen neue Bilder auf ihn ein. Bilder von der Fahrt durch ein zerstörtes Syrien. Bilder vom völlig überladenen Flüchtlingsboot, das nahe Kos kenterte und drei Menschen das Leben kostete. Und in das er sich als Letzter gewaltsam hineingedrängt hatte. Bilder von der langen Flucht über den Balkan, von Streitereien mit Schleppern, mit anderen Flüchtlingen, mit der Polizei in der Türkei, in Serbien, in Ungarn. Auch in Deutschland hat er keinen Frieden gefunden. In der Erstaufnahme hat er sich aus nichtigen Gründen mit ein paar Afghanen geprügelt. Er weiß nicht einmal mehr, wieso. Er wollte nicht töten und nicht kämpfen und hat es doch getan.
Wumms.
Dann haben sie ihn in diese Kaserne gesteckt, mitten im Nirgendwo, in der er mit Hunderten Fremden zusammenlebt. Er fragt nicht, woher sie kommen, denn er weiß es anhand ihrer Namen, ihrer Redeweise, ihres Wohnortes. Wie viele von ihnen hat er den Tod gesehen, wie viele von ihnen selbst getötet. Doch das ist eine Gemeinsamkeit, die sie nicht verbindet, sondern trennt. Sie dürfen nicht wissen, was er getan hat, er darf nicht wissen, was sie getan haben. Sie müssen zusammenleben.
Wumms.
Manche hier versuchen, ihm zu helfen. Bei den Papieren und beim Deutsch lernen, zum Beispiel. Andere kommandieren ihn herum. Bei der Registrierung, bei der Essensausgabe, beim Arztbesuch. Das Asylverfahren läuft endlos. Er ist allein mit seinen Gedanken, zur Untätigkeit verdammt, darf nicht arbeiten. Doch selbst, wenn – was soll er tun? In Syrien hat er Intarsienarbeiten verkauft. „Du bist nicht qualifiziert“, sagen sie hier. „Das wird schwer.“ Jetzt haben sie wieder Grenzkontrollen eingeführt. Ihr seid zu viele, du bist nicht mehr willkommen, lautet die Botschaft. Deutschland öffnet Türen, um sie wieder zuzuschlagen.
Wumms.
Ahmed sieht wieder Maryams Gesicht vor sich. Er atmet tief durch. Vier Uhr, sagt das Smartphone. Zwei Stunden noch bis Sonnenaufgang. Acht Stunden bis zum Mittagessen. Sechzehn Stunden bis Sonnenuntergang.

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Eine leicht abgewandelte Version dieser Geschichte ist in der Anthologie „Grenzenlos“ des Deutschen Schriftstellerforums veröffentlicht. Alle Autoren, Lektoren, Helfer und natürlich die Herausgeberin haben gemeinsam und unentgeltlich ein Werk als Zeichen gegen Rassismus und für Toleranz geschaffen. Der Erlös geht an Ärzte ohne Grenzen.

Das Buch können Sie für 10 € im Buchhandel erwerben.

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Coverbild: © T.Arens